Von Rainer Krause, Vorsitzender des Jagdverband Oschatz

Ende Juni erhielt ich zwei junge Turmfalken aus einer verloren gegangenen Brut. Die beiden Küken waren in einem verlassenen Nest entdeckt worden, das offenbar aufgegeben wurde. Schon bei ihrer Ankunft war klar: Die beiden Geschwister unterschieden sich deutlich in ihrer Entwicklung. Während einer der beiden Jungvögel kräftig und gut genährt war, zeigte sich der andere noch sehr zierlich und schwach.

 Trotz dieses anfänglichen Unterschieds entschied ich mich, beiden Küken eine faire Chance zu geben. Ich fütterte sie sorgfältig mit einer ausgewogenen Mischung aus Hühnerküken und fein portioniertem Rindfleisch – eine bewährte Methode in der Aufzucht von Greifvögeln. Und siehe da: Der kleinere der beiden legte in kurzer Zeit deutlich zu. Mit bemerkenswertem Appetit und einer überraschenden Durchsetzungskraft holte er seinen Bruder bald ein – und überholte ihn schließlich sogar in Größe und Vitalität. Solche Entwicklungen zu beobachten, erfüllt mich jedes Mal mit großer Freude.

Vor drei Tagen jedoch ereignete sich ein unvorhergesehener Vorfall: Der ursprünglich größere Turmfalke nutzte einen unbeobachteten Moment und entwischte. Seither fehlt jede Spur von ihm. Solche Ereignisse sind in der Wildtierpflege keine Seltenheit – dennoch berühren sie mich immer wieder aufs Neue. Ich hoffe sehr, dass er sich in der Natur zurechtfindet und seinen Weg gehen kann.

Der verbliebene Jungvogel hingegen entwickelt sich weiterhin prächtig. Sein Gefieder hat sich inzwischen zu einem besonders schönen Exemplar herausgebildet – ein wahrer Blickfang unter den diesjährigen Jungvögeln. Aufgrund seiner positiven Entwicklung habe ich beschlossen, ihn langfristig in meine Falknerei zu integrieren. Die notwendigen Schritte zur Eingliederung sind bereits in die Wege geleitet, und ich freue mich sehr auf die Zukunft mit diesem außergewöhnlichen Gefährten.

 Solche Erlebnisse zeigen eindrücklich, wie spannend, emotional und unvorhersehbar die Arbeit mit Wildtieren sein kann. Jeder Vogel hat seine eigene Geschichte – und manchmal sind es gerade die vermeintlich Schwächeren, die uns am meisten überraschen.

Rainer Krause

2025